You’ll Never Walk Alone

„Was man nicht messen kann, kann man nicht lenken.“
Peter Ferdinand Drucker – US-amerikanischer Ökonom
Wenn Du nach den wichtigsten Nachrichtenthemen der letzten Monate gefragt wirst, was fällt Dir spontan ein? Ist es die Klimakrise, der Ukraine-Krieg, die Energiekrise, die steigende Inflation, die Bankenkrise, das Verbrenner-Aus, das Verbot von Gas- und Ölheizungen oder die täglichen Highlights der Shootingstars der Bundesregierung oder aber auch die eine oder andere Weisheit aus der lokalpolitischen Ecke? Diese Liste kann man täglich neu definieren.
In diesem multimedialen „Panoptikum“ erscheint der Beitrag der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen vom September 2020 zu dem Thema „Europäische Digitale Identität“ eher langweilig, nichtssagend und zum Vergessen prädestiniert.
Noch einmal zum Nachlesen: „… Aus diesem Grund wird die Kommission demnächst eine sichere europäische digitale Identität vorschlagen. Eine, der WIR vertrauen, und die Bürgerinnen und Bürger überall in Europa nutzen können, um alles zu tun, vom Steuern zahlen bis hin zum Fahrrad mieten. Eine Technologie, bei der WIR selbst kontrollieren können, welche Daten wie verwendet werden.“
Das klingt alles harmlos und positiv. Aber wer mit WIR gemeint ist, wird leider nicht erklärt. Das versucht Bundesfinanzminister Cristian Lindner, der dieses „Schlüsselprojekt mit Macht vorantreiben“ will (bzw. muss), zwei Jahre später etwas genauer zu erklären.
Quelle: ZDFheute Nachrichten (https://www.youtube.com/watch?v=OtCvcSWibE0)
Wenn sich das Bundesfinanzministerium für dieses Thema begeistern lässt, dann wäre es ratsam, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken, bevor das Thema uns mehr Aufmerksamkeit schenkt.
Nach dem Motto „Traue keinem Politiker“ ist es naheliegend, nach weiteren Details zum Thema „Digitale Identität“ bei denjenigen zu suchen, die für die konkrete technologische Umsetzung verantwortlich sind. Diese Suche führt uns direkt zu dem französischen High-Tech Konzern THALES, der bei vielen staatlichen Digitalprojekten auf Regierungsebene weltweit eine Schlüsselrolle spielt.
Die THALES Group mit Sitz in Paris ist ein börsennotierter Rüstungskonzern mit Fokus auf folgenden Geschäftsbereichen: Rüstungsindustrie, Luft- & Raumfahrttechnik und Digitale Identität & Sicherheit.
Der Bereich Digitale Identität & Sicherheit umfasst Kernkompetenzen in den Technologiesegmenten Biometrie, Datensicherheit und Verschlüsselung.
Aus der Sicht des Benutzers ist der technologische Dreh- und Angelpunkt der europäischen digitalen Identität und der eID-Karte, auch digitale Brieftasche oder EU ID genannt, das Smartphone. Mit dieser digitalen Geldbörse/Brieftasche können Bürger der Europäischen Union und Angehörige des Europäischen Wirtschaftsraums verschiedene persönliche (biometrische) Daten und Dokumente mit einer App digital speichern und in allen EU-Mitgliedstaaten nutzen.
Die europäische digitale Brieftasche basiert auf der „Digital ID Wallet“ – einer Systemlösung von THALES. Die praktische Funktionsweise ist in diesem Werbevideo von THALES kurz und knapp zusammengefasst.
Was will uns diese Werbung eigentlich sagen und subtil übermitteln?
Wir lernen die junge attraktive Frau mit dem Namen Lucy kennen. Warum Lucy und nicht Angela, Ursula, Annalena, Nancy, Lisa, Steffi, Bettina, Svenja oder Klara?
Den Namen Lucy kann man mit dem gleichnamigen Action- und Science-Fiction-Film aus dem Jahr 2014 assoziieren. In dieser fiktiven Story steigert die 25-jahrige Studentin Lucy durch eine hohe Dosis einer Drogensubstanz die Leistungsfähigkeit ihres Gehirns rapide und kann immer mehr Anteile ihrer „Gehirnkapazität“ nutzen. Nachdem Sie Ihre Gehirnleistung auf 100 % gesteigert hat, verschmilzt der Körper von Lucy mit sämtlichen Geräten eines wissenschaftlichen Labors zu einem neuartigen Supercomputer. Dabei macht Lucy eine Zeitreise bis zu den Ursprüngen des Universums. Sie trifft dabei ihre Namensvetterin Lucy, die vor ca. 3,2 Millionen Jahre gelebt hat und in der menschlichen Evolutionstheorie häufig als das fehlende Bindeglied zwischen Affe und Mensch bezeichnet wird. Nach dieser biblischen Begegnung zerfällt der Supercomputer und die Stimme von Lucy verkündet „I AM EVERYWHERE (Ich bin überall). Vor einer Milliarde Jahren wurde uns das Leben geschenkt. Macht etwas daraus!“
Soll uns die THALES-Lucy auf den nächsten Meilenstein unserer evolutionären Entwicklung einstimmen?
Sie ist auch noch Psychologiestudentin. Die Psychologie, auch Seelenkunde genannt, ist eine empirische Wissenschaft, deren Ziel es ist, menschliches Erleben und Verhalten zu beschreiben und zu erklären. Psychologen befassen sich mit dem Erleben, Verhalten und Bewusstsein von Menschen.
Will man dem Zuschauer suggerieren, dass man dieser „evolutionären“ Technologie vertrauen kann?
Im weiteren Verlauf stellt sich die Digitale ID-Brieftasche selbst als praktische Möglichkeit für den Identitätsnachweis und den Identitätsschutz vor. Mit Ihrer Hilfe kann jetzt die Regierung besser mit uns kommunizieren. Und als erstes wird man an seinen nächsten Termin für die Pflichtimpfung erinnert.
Für den Zuschauer erscheint das Digitale ID Wallet „wie ein «guter Hirte», deren Aufgabe es ist, «über die man wacht, Gutes zu tun»“. Das ist ein klassischer Fall von moderner Biopolitik und Gouvernementalität. Eine detaillierte Erläuterung dieser Macht- und Regierungstechniken zur Überwachung und Lenkung des Verhaltens von Subjekten und Kollektiven finden man in dem Beitrag „Die Corona-Pandemie – Möge die Bio-Macht mit Dir sein“.
Im biopolitischen Sinne wird die Bevölkerung in erster Linie als „Produktionsmaschine zur Erzeugung von Reichtum, Gütern und weiteren Individuen“ betrachtet. Die Biopolitik sorgt für Rahmenbedingungen, die der Produktionsmaschine nützlich sind. Dabei wird das Individuum nach seiner Nützlichkeit vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Zustände bewertet. Zu diesem Zweck wird der Einzelne immer an einer Norm gemessen.
Dafür braucht die Obrigkeit sehr viele Informationen, um alles über z.B. „Ressourcen, Einwohnerzahl, Reichtum, Wohnverhältnisse, Kaufverhalten, Mobilität, Ausbildungsstand, Qualifikationen, Konsumverhalten, Krankheitshäufigkeit, und Gesundheit der Einwohner eines Staates zu erforschen“. Als Ergebnis der Auswertung dieser Daten definiert die Biopolitik verschiedene Regulierungsmechanismen (Normen). Die Biopolitik beschäftigt sich mit der Lebensführung, reguliert und kontrolliert diese durch die Festlegung von Idealen und Normen. Die Aufgabe der Bürger ist es, diesen Normen bestmöglich zu entsprechen, Abnormales zu korrigieren und im Idealfall gänzlich zu vermeiden.
Mit anderen Worten teilt uns das Digitale ID-Wallet mit, dass es ein effizientes und für die Obrigkeit ein kostengünstiges Werkzeug ist, uns zeitnah über Regulierungsmechanismen (Normen) zu informieren und uns an deren Einhaltung zu erinnern. (Hier am Beispiel einer Pflichtimpfung.) Das setzt natürlich voraus, dass die Obrigkeit auch genaustens über unsere elektronischen Patientenakten Bescheid weiß.
Diese soll übrigens ab Ende 2024 für alle Bürger verbindlich werden. „Wer nicht ausdrücklich widerspricht, ist automatisch dabei.“
Und wie die Biopolitik mit denjenigen umgeht, die den festgelegten Normen nicht entsprechen, wurde bereits in „Die Corona-Pandemie – Möge die Bio-Macht mit Dir sein“ beschrieben.
In dem Werbefilm wird die digitale Brieftasche weiter als Autorisierung zur Teilnahme am Staatsexamen benutzt. Sie „erleichtert“ die Kommunikation mit dem Finanzamt und anderen staatlichen Behörden, und ermöglicht den Zugang zu Finanz- oder Mobilitätsdienstleistungen. Nicht zu vergessen der Link zwischen dem Digital ID-Wallet und der elektronischen Patientenakte beim Arztbesuch. Sogar für den Zugang in eine Kneipe sollte der „gute Hirte“ zur Seite stehen.
„Ja, ich bin Lucys bester Begleiter. Ich beschütze Ihre Identität und amtliche Legitimation, wo immer sie ist. Ich garantiere den sicheren Zugang zu öffentlichen und privaten Dienstleistungen. Ich erlaube den richtigen Zugang zu den richtigen Daten an die richtige Person. Auch Regierungen vertrauen mir bei der Unterstützung der digitalen Transformation deren Länder.“ – fasst die Digitale Brieftasche am Ende zusammen.
Grob gesagt, ist man durch die Verwendung des Digital ID-Wallets und dem damit verbundenen Zugriff auf seine biometrischen Merkmale fälschungssicher transparent! Und wenn man den Normen, die vom „guten Hirten“ festgelegt werden, nicht entspricht, könnte man – wenn es Hart-auf-Hart kommt – am Ende ganz nackt dastehen.
Bei dem einem oder anderen Kritiker der Corona-Politik der Regierung in den letzten drei Jahren werden dabei Erinnerungen wach.
Dass es sich nicht um reine Firmenwerbung, sondern um knallharte EU-Doktrin handelt, wird in dem offiziellen Dokument von THALES „Welcoming The Wallet“ verdeutlicht. Auf Seite 7 liest man folgendes:
Die ursprüngliche Liste der Sektoren, die die Brieftasche nutzen sollen, lautet wie folgt:
- Verkehr
- Energieversorgung
- Bankwesen und Finanzdienstleistungen
- Soziale Sicherheit
- Gesundheit
- Trinkwasserversorgung
- Postdienste
- Digitale Infrastruktur
- Bildung
- Telekommunikation
Sehr große Online-Plattformen (definiert als Plattformen mit mehr als 45 Millionen durchschnittlichen monatlichen Nutzern in der EU), die sozialen Medien und andere globale Anbieter werden ebenfalls verpflichtet sein, die Brieftasche zu akzeptieren.
„Eine Überprüfung durch die EU-Kommission wird innerhalb von 18 Monaten nach der Umsetzung erwartet. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass die Akzeptanz und Annahme nur schleppend verlaufen ist, könnten neue Anstrengungen oder eine strengere Durchsetzung unternommen werden, um die Akzeptanz zu erhöhen.“
Der Countdown läuft:

In Kombination mit der Europäischen Digitalen Identität verwandelt sich das Smartphone in ein spezifisches, technisches Instrument, um Regierungstechniken zur Überwachung und Lenkung sowohl von Kollektiven als auch von einzelnen Individuen umzusetzen. Diese Umsetzung hat zwei Dimensionen:
a) politische Dimension
Definierte Sicherheits- und Vorkehrungsregeln wirken dabei als Kontrollmechanismus der Bevölkerung, um Gefahren zu erkennen und so weitreichend wie möglich auf die Handlungsweisen der Bevölkerung und freien (kollektiven) Subjekte zu wirken (z.B. Neben Pandemien wird der Klimawandel zunehmend als Gefahrensituation definiert).
b) unternehmerisch-wirtschaftliche Dimension
Da das Smartphone zu einem alltäglichen Begleiter wurde, werden anhand dieses spezifischen Instruments unzählige Daten generiert, die von Unternehmen verwendet werden, um unter anderem das Kaufverhalten oder Lebensgewohnheiten zu prognostizieren und umfassende Maßnahmen zu setzen, damit auf die Art und Weise, wie die Bevölkerung, wie auch (kollektive) Subjekte leben, eingewirkt werden kann.
Die politische Dimension der Überwachung und Kontrolle ist „sichtbar“. Meistens erfolgt sie auf die „harte Go-NoGo“ Weise. Bei fehlender Kompatibilität mit den vorgegebenen Normen folgen unmittelbar Konsequenzen (von Exklusion bis hin zu weitreichenden Disziplinarmaßnahmen).
Die unternehmerisch-wirtschaftliche Dimension wirkt eher subtil, „unsichtbar“ und diskret. Dadurch werden die Ideale und Normen propagiert. Im Vordergrund steht die „Förderung“ derjenigen, die der Norm entsprechen.
THALES hat auch für diese Dimension das passende Werbevideo mit dem Titel „Vertrauenswürdige digitale Leben“ kreiert.
Die Werbestory suggeriert grenzenlosen Spaß und Bequemlichkeit, wenn man sein Leben digitalisiert. Der Schlüssel zu diesem Paradies ist die digitale Erfassung der biometrischen Daten und deren permanente Verbindung mit dem eigenen Bewegungs- und Verhaltensprofil.
Nach der Logik von Michel Foucault, dem Erfinder der Begriffe „Biopolitik“ und „Gouvernementalität“ ist das Ziel, neben dem Erhalt/Aufbau eines globalen Gleichgewichtszustandes, die Sicherheit des Ganzen und dessen Schutz vor inneren Gefahren. Da die Bevölkerung vielfältig ist, geht es zum einen darum, die Gefahren zu erkennen und zum anderen auch darum, eine Form der Regierung zu finden, die so weitreichend ist, dass sie bis in die verborgensten Winkel der Bevölkerung Wirksamkeit zeigt. „Die Bevölkerung zu führen heißt, ihrer globalen Befunde zu führen; die Bevölkerung zu führen heißt, sie gleichermaßen in der Tiefe, in der Feinheit und im Detail zu führen.“
Die Einführung der Europäischen Digitalen Identität stellt die logische Fortsetzung der modernen Biopolitik und Gouvernementalität mit neusten technologischen Mitteln dar. Man schafft dabei die Basis, um weitere immer ausgereiftere künstliche intelligente Systeme zu entwickeln oder zu optimieren, die unser Verhalten auf logisch-mathematische Prozesse reduzieren, um diese auf Grundlage der gewonnenen Daten immer effizienter zu gestalten. Zu diesem Thema empfehle ich dem interessierten Leser den Artikel „6G – Die „kambrische“ Explosion der Künstlichen Intelligenz“.
Die Einführung der Europäischen Digitalen Identität soll vorerst freiwillig sein, d.h. nur auf Wunsch jedes einzelnen Bürgers. Damit sollen erstmal die meisten Skeptiker und Kritiker beruhigt werden. Nach dem Motto – wenn mich etwas nicht betrifft, interessiert es mich nicht.
Man muss jedoch dabei bedenken, dass sich die moderne Gesellschaft nicht mehr ihren Bürgern anpasst, sondern die Bürger orientieren sich an ihrer Gesellschaft. Die Geschehnisse der letzten drei Jahre haben deutlich gezeigt, wie das in der Praxis funktioniert.
Noch einmal zur Erinnerung – sollten „die Akzeptanz und Annahme der digitalen Identität nur schleppend verlaufen, könnten neue Anstrengungen oder eine strengere Durchsetzung unternommen werden, um die Akzeptanz zu erhöhen.“
Während man noch zaghaft versucht, mit der Aufarbeitung der Corona-(Bio)Politik aus den letzten Jahren anzufangen, werden im öffentlichen Raum schon die nächsten Narrative skizziert: Ein festes CO2-Budget pro Kopf – wie ginge das? oder Die Klima-Buße – Warum die Deutschen wollen, dass Klimaschutz wehtut. Aus den Skizzen werden demnächst Normen, an denen jeder Einzelne mit Hilfe von seinen biometrischen Merkmalen fälschungssicher permanent gemessen sein wird.
Inwieweit dann Pamela, Soraya, Carl und Antoine aus dem letzten Werbefilm von THALES noch fröhlich über den Bildschirm springen dürfen, bleibt abzuwarten. Auch „nützliche Idioten“ können „nutzlos“ werden, wenn sich die Norm ändert, an der sie gemessen werden. Aber ich bin mir sicher, dass die Marketingabteilung von THALES auch für solche Fälle das passende Werbevideo haben wird.
Die digitale Brieftasche soll uns in guten und in schlechten Zeiten begleiten, bis das der Tod uns scheidet. Und möge der Weg dorthin mit purer Leidenschaft gepflastert sein – so wie in diesem Song von Police:
Quellen (Stand vom 01.09.2023)
